Ich habe mich immer schon denen zugehörig gefühlt, die von den Philosophen als "naive Realisten" belächelt werden: da draußen ist eine wirkliche Welt, deren Wirklichkeit sich mir mit meinen Sinnen und meinem Denken erschließt, und an der ich selbst Anteil habe. Gott - als Urgrund allen Seins - ist gewissermaßen die letzte, tiefste Wirklichkeit, das Fundament, auf dem die Erkenntnis aller Dinge als wirklich im tiefsten Grunde ruht. Ich verneine an diesem Punkt nichts, schiebe meinem Erkennen nicht willkürlich irgendwelche Riegel vor, sondern bejahe nur, was ich als wahr und wirklich vorfinde. Indem ich in diesem Bejahen immer weitergehe und weitergreife, mündet all dieses Bejahende schließlich in einem letzten und tiefsten Ja.
Das Materielle und Sinnliche ist in dieser Bewegung nur ein Anfang - wirklich zwar, aber es enthält den Grund der Wirklichkeit nicht in sich selbst. Und unser eigenes Sein ist nicht rein stofflich, sondern ebenso leben wir in nicht stofflichen Reichen: durch unsere Gedanken, unsere Gefühle, ja schon durch die lebendige Kraft, die einen lebenden Menschen zusammenhält und von einem Leichnam unterscheidet, ragen wir über die Gesetze des rein Materiellen hinaus.
Die uns umgebende sinnlich sichtbare Welt in ihrem gegenwärtigen Zustand ist nicht nur kein in sich selbst abgeschlossenes Netzwerk von Vorgängen, sondern im wesentlichen eine große Kulisse für den Kampf geistiger Mächte.
Was wir sehen und was sich ereignet, vor allem in unserer menschlichen Geschichte, ist nicht nur keine kausal ablaufende Kette von Vorgängen eines in sich geschlossenen Systems – vielmehr ist es die Folge der freien Willensentscheidungen vieler einzelner. Jeder einzelne knüpft durch seine Handlungen und Worte, und sogar schon durch seine Gedanken Bande mit Dingen, die sich in dieser Welt ereignen. Teilweise sind es direkte, sichtbare Wirkungen - teilweise sind es unsichtbare Bande. Es ragt Geistiges hinein in diese Welt durch unser Denken und unseren Willen.
Wenn ich denke, denke ich nie für mich allein, bin ich nie in mich selbst eingekapselt. Es ist immer Gott gegenwärtig – nicht nur, weil Er die Wahrheit ist, vor dem all mein Denken steht, sondern auch weil Er immer bereit ist, den Denkenden in der inneren Zwiesprache immer tiefer in Seine Geheimnisse einzuweihen.
Der Gedanke ist seiner Natur nach übergreifend, übersteigt meine Person und strahlt aus in einen geistigen Raum, den ich mit allen anderen Menschen teile. Den Gedanken erschaffe ich auch nicht zwingend selbst, sondern ich kann ihn aus diesem geistigen Raum heraus ergreifen und ihn mir zueigen machen. Dadurch daß ich dies tue, kann ich ihn verstärken, wodurch es wahrscheinlicher wird, daß auch andere ihn denkend zu Gast nehmen.
Wenn aber Menschen Gedanken mit ihrem Erkenntnisvermögen nur prüfen und sich aneignen oder auch ablehnen – woher kommt dann der Gedanke? Gewiß, Menschen können ihm Kraft geben, ihn gleichsam aufladen und stärker machen, so daß auch andere ihn denken. So entstehen Denkströmungen und der sogenannte "Zeitgeist". Aber der Ursprung des Gedankens ist woanders: eingehaucht, in-spiriert wird uns vieles von dem, was wir denken, durch nichtkörperliche Wesenheiten. Das können Gedanken mit verheerender Wirkung sein ("keineswegs werdet ihr sterben, sondern ihr werdet sein wie Gott und erkennen, was gut und böse ist") – aber auch Gedanken, die uns zum Erkennen der Wahrheit und zum Tun des Guten führen. Unserer Natur gemäß sind wir leider dem bösen Gedanken eher zugeneigt und nur zu gern bereit, verlockenden, aber verlogenen Säuselworten unser Ohr zu schenken, weil wir den "Ohrenkitzel" so lieben. Das bringt uns auf eine abschüssige Bahn:
Denn es wird eine Zeit kommen, da sie [die Menschen] die gesunde Lehre nicht ertragen, sondern nach eigenen Gelüsten sich Lehrer zusammensuchen, weil sie nach Ohrenkitzel verlangen. Von der Wahrheit werden sie das Ohr abwenden und den Fabeleien sich zuwenden. (2. Tim. 4,3-4)
Es spielt also eine Rolle, was wir denken - welchen Inspirationen wir unser Ohr schenken, welche Gedanken wir in uns festhalten und stärken: auf geheimnisvolle Weise wird dies in der Welt wirksam. Wenn Trappistenmönche in klösterlicher Abgeschiedenheit leben und keine andere Worte als Gebete mehr von ihren Lippen kommen, so ist ihre Anwesenheit in dieser Welt, auf die sie dem äußeren Augenschein nach ja keinen Einfluß haben, doch nicht unwesentlich. Es werden unsichtbare Kraftströme als moralische Aufrichtekräfte wirksam, denn Gott sagt uns zu, unsere Gebete zu erhören. Würden all diese Orte der Frömmigkeit auf der Welt fehlen – die Menschen würden brutaler und wilder werden.
Leider gibt es solche unsichtbaren Wirkungen auch in der Gegenrichtung - jede Abkehr von Gott, jede Verfluchung, Verspottung und Verwünschung Gottes, aller Haß und alle Begierden, alles Sich-Einschließen ins rein Innerweltliche, alle Absonderung von Gott - kurz: alle Sünde zeitigt ebenfalls Wirkungen. Ist es zu kühn gedacht, auch alle Übel in der Welt als Folge unserer Sünden zu verstehen?
Das Leiden, Unglück, alle Krankheit und alles Elend kommt nicht von Gott - war nicht Teil von Seinem Schöpfungsplan. Die Dinge sind nicht mehr so, wie Er sie einst geschaffen hat, "ein jegliches nach seiner Art" (Gen. 1,24). Es ist nur Sein zulassender Wille, daß Seine Schöpfung so schmerzhaft getrübt und verdunkelt wird. Er läßt all dieses zu um eines höheren Gutes willen.
Wenn es aber nicht von Gott kommt, kommt es von den Geschöpfen, die Er aus Seiner Allmacht und Allgüte herausgesetzt hat, denen Er einen freien Willen geschenkt hat, damit sie Gottes Ebenbild und Gleichnis seien.
Die übernatürliche Kausalität, nach der unsere Gebete und Segnungen ebenso wie unsere Flüche Wirkungen haben, selbst wenn wir sie in vermeintlicher Einsamkeit sprechen, ist nicht nur überräumlich, sondern auch überzeitlich. "Zeit und Raum sind nur Varianten des Nichts" (Hans Milch), verschatten das Wesentliche.
Im Sinnne dieser übernatürlichen Kausalität enthält auch das Leiden unseres Herrn Jesus Christus in sich zusammengefaßt alle Leiden, die sich je auf Erden ereignet haben, ereignen und je ereignen werden. Im Kirchenlied O Haupt voll Blut und Wunden ist dieser Gedanke ausgedrückt:
Nun, was du, Herr, erduldet,
ist alles meine Last;
ich hab es selbst verschuldet,
was du getragen hast.
Schau her, hier steh ich Armer,
der Zorn verdienet hat.
Gib mir, o mein Erbarmer,
den Anblick deiner Gnad.
Nur so ist überhaupt Sein göttlicher Opfergang nach Golgotha zu verstehen. Nur so wird begreiflich, daß das Lamm Gottes die Sünden der Welt hinweggenomen hat.
Obwohl dies also ein sehr zentraler Gedanke ist, sind solche Wirkzusammenhänge eher im Glauben zu erahnen als klar zu begreifen, weil sie außerhalb unserer gewöhnlichen sinnlichen Erfahrung liegen – wir sehen sie wie in einem trüben Spiegel.
Auch ist es nicht gut, das Augenmerk bei solchen Betrachtungen zu sehr auf die causa efficiens, die Wirkursache zu legen, also auf die Frage: woher kommt das Übel? Viel besser ist es, nach der causa finalis zu fragen: worauf ist das Übel gerichtet? So hatte der Blinde seine Krankheit, nicht weil er oder seine Eltern gesündigt hätten, "sondern damit die Werke Gottes an ihm offenbar werden" (Joh 9,3). Seine Blindheit erschöpft sich also nicht darin, von etwas bewirkt zu sein. Sie hat einen Zweck, eine Richtung, einen Sinn, und darauf kommt es an. Das Übel kann eine reinigende, erzieherische Wirkung haben. Es kann geschehen, um Umkehr zu ermöglichen. Umkehr bedeutet: die egozentrischen oder anthropozentrischen Maßstäbe fortwerfen und sich entscheiden, sein Leben so zu leben, daß Gott das Szepter übernimmt: an einem Menschen, der umkehrt, werden nicht mehr seine eigenen Werke, sondern die Werke Gottes offenbar, denn er gibt Gott Raum für Sein Gnadenwirken. Welcher Wirkursache auch immer man dann sein Übel verdankt – entscheidend ist dann, daß es Gelegenheit war, das Wachstum der Seele zu Gott hin zu fördern.
Tatsächlich kann man einen solchen pädagogischen Charakter des Übels oft feststellen. Not ist ein guter Lehrmeister, um in der Reduktion auf das Wesentliche wieder die Prioritäten richtig zu setzen. Es wird das, was immer nottat und immer nottut, wieder sichtbar. So kann das Leid uns Demut und Bescheidenheit lehren und von den Geschwüren unseres Egoismus und Narzißmus befreien – von dem aufgeblasenen Stolz auf unsere eigenen Leistungen und "wie herrlich weit wir's doch gebracht haben". Das Übel, so schlimm es ist, ist immer auch eine Gelegenheit, um zur guten Ordnung zurückzukehren, die eine Gesellschaft trägt und erhält. Um das Gute und das Böse wieder einzusetzen – Maßstäbe, über die wir uns im hochmütigen Dünkel eines sogenannten "modernen Denkens" ach so erhaben dünkten. All dies, die klare Ordnung, das Oben und Unten, das Gute und das Böse, war von einem dichten Teppich von geistigem Unkraut überwuchert. Nun wird die Lage bereinigt.