Rüdiger Plantiko

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Wenn ich im folgenden von Liberalismus rede, meine ich den Begriff nicht nur im amerikanischen Sinne (da würde der europäische Liberale zustimmend nicken und sagen "Ja, schlimm, was die da abziehen!"), sondern übergreifend - und schließe ausdrücklich auch die europäischen Varianten mit ein. Wer auf den Unterschied großen Wert legt, sollte sich fragen, ob nicht die europäischen Varianten bereits die schiefe Bahn sind, die mit einer inneren Gesetzmäßigkeit zu der amerikanischen Form des Liberalismus und zum Sozialismus führt.

Mit den politischen Verwerfungen im Zeitalter der Aufklärung wie dem Englischen Bürgerkrieg und der Französischen Revolution – von Linken auch als bürgerliche Revolution und Vorstufe der von ihnen selbst erstrebten Gesellschaftsveränderungen gesehen – entspringen Liberalismus und Sozialismus denselben Wurzeln. Es ist daher nicht verwunderlich, daß sie auch ideologisch eine Reihe von Gemeinsamkeiten haben, obwohl sie immer wieder mit großem Pathos ihre Feindschaft und Unversöhnlichkeit erklären. Das kann man oft beobachten, daß verwandte Glaubenssysteme, die einen Ursprung miteinander teilen, sich gegenseitig viel heftiger bekämpfen als sie ihren gemeinsamen Feind (hier: den Konservativen) bekämpfen.

Was sind das nun für Gemeinsamkeiten?

  • Das utopische Menschenbild.- Die sozialistischen Träumereien vom "Neuen Menschen", der in den geeigneten Verhältnissen gedeihen und die ganze Welt in den Garten Eden verwandeln werde, sind wohlbekannt. Aber genauso herrscht auch im Liberalismus das Denken "wenn man die Menschen einfach nur machen läßt, wird alles gut". Also ein übertriebenes, durch die Wirklichkeit nicht gerechtfertigtes Vertrauen in die Kräfte des Menschen, der letztlich alles zu seinem Wohle umgestalten könne, wenn nur einmal diese lästige staatliche Bevormundung wegfalle. Konsequent übersieht man die Schattenseiten des Menschenwesens, seine naturgemäßen Unvollkommenheiten, sein Machtstreben, seine Neigung zur Übervorteilung des Mitmenschen, seine Unmoral.
  • Der Materialismus bzw. Ökonomismus.- Beide Ideologien setzen ihr Hauptaugenmerk seltsamerweise auf den Handel. Die Sphäre der Wirtschaft ist zwar nicht unwichtig, und natürlich ist der freie, d.h. nicht von staatlichen Beamten verwaltete, geplante und kontrollierte Handel allen Alternativkonzepten überlegen – wie es der Liberalismus sagt. Aber wie das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile, so kann eine Gesellschaft nicht nur als Summe der Aktivitäten lauter einzelner net wealth optimizer betrieben oder auch nur beschrieben werden. Die Gesellschaft als Ganzes kann und soll durchaus die Wirtschaft in ihre Schranken weisen, ihr Grenzen setzen, Regeln auferlegen im Interesse aller.
    Der marxistische Glaube an die absolute Planbarkeit der gesamten Wirtschaft stellt hier das andere Extrem dar und ist ebenfalls eine materialistische Überhöhung der Sphäre der Wirtschaft, so als könne eine bestimmte Wirtschaftsweise die Gesellschaft in ein Paradies verwandeln.
  • Die Infragestellung und letztlich Ablehnung bestehender, gewachsener Institutionen (als gewordener sozialer Einrichtungen), zu deren Abschaffung man sich in einem naiven Fortschrittsglauben berechtigt wähnt (weitere Gemeinsamkeit! Auch der Liberale findet, daß wir es im Vergleich zum Mittelalter doch so "herrlich weit gebracht haben" mit der Wissenschaft, der Technik und vor allem – natürlich! – dem Handel... und uns eine noch viel glanzvollere Zukunft bevorsteht). Alles gesellschaftlich Gewordene, jedes Rädchen und Schräubchen des komplizierten gesellschaftlichen Räderwerks ist zum Abschuss freigegeben, wenn es den eigenen ideologischen Zielen im Wege steht, wenn es als unvernünftig, irrational oder unökonomisch angesehen wird. Die zivilisierte Gesellschaft also nicht als Organismus, vor dessen bloßer Existenz oberhalb des nackten Chaos man staunend steht, sondern als Spielobjekt für die eigenen Ideen.
  • Die Ablehnung des Volkes.- Einerseits aus der Position des radikalen Individualismus heraus, der jeden Hinweis auf die Gruppenhaftigkeit des Menschen als "Kollektivismus" ablehnt. Das Volk ist für den Liberalen etwas Anstößiges – ein Kollektiv, das ihn zu Dingen zwingen will und ihn daher in seiner Freiheit behindert. Das Volk gibt es für ihn überhaupt nicht, es handelt sich für den Liberalen um einen erfundenen Begriff, den Herrscher nur als Trick benutzen, um Macht über andere Menschen auszuüben. Auch der Sozialismus will nichts von Völkern wissen (wir erinnern uns an das Marxsche Diktum von den "Völkerabfällen"), weil Völker für ihn nur rückschrittliche Hindernisse auf dem Wege zur neuen, global gedachten, brüderlichen Menschengemeinschaft darstellen, in der endlich ohne Hass und Krieg jeder nach seinen Bedürfnissen konsumiert und nach seinen Fähigkeiten produziert.
  • Der Globalismus.- Liberalismus und Sozialismus gelten im Weltmaßstab oder gar nicht. Weil sie die Welt aus dem Kopf, von der Idee her entwerfen und Ideen ihrer Natur nach universell sind, können sie nur global sein. So gibt es auch heute eine auf den ersten Blick merkwürdige Allianz von Unternehmerverbänden und Linken, wenn es um Dinge wie Multikultipropaganda geht. In ihrer Ablehnung der Völker sind sie sich einig. Unterhalb des Weltmaßstabs machen sie's nicht.

Ein typisches liberales Schreibstubenprodukt ist zum Beispiel der Begriff des Verfassungspatriotismus. Er zeigt eine entscheidende Kurzsichtigkeit des Liberalismus, die er mit dem Sozialismus teilt: seine Blindheit für die Realität von Völkern. Es ist grenzenlos naiv zu glauben, Menschen würden sich für ein abstraktes Regelwerk wie "für die unveräußerlichen Paragraphen des Grundgesetzes", für die Straßenverkehrsordnung oder sonst irgendein Gesetz in einen Krieg werfen und ihr Leben dafür einsetzen. Wenn Menschen Dienste leisten und Opfer bringen, im äußersten Fall bis hin zu ihrem eigenen Leben, tun sie dies in der Regel für sich und die Ihren: für ihre eigenen Leute, für ihr Kollektiv. Ausnahmen gibt es immer, aber sie reichen nicht, um das Bestehen der Gesellschaft zu sichern. Eine zivilisierte Gesellschaft ist darauf angewiesen, dass sich ihre Mitglieder ohne Rechtszwang in sie einbringen, ohne daß ein autoritärer Staat darüber wacht, daß sie ihre Dienste auch leisten. Ich sage es gern noch einmal: Menschen bringen sich ein für ihre eigene Familie, für ihre eigene Horde, für ihre eigenen Leute, für ihr eigenes Volk, für ihr Kollektiv. Die tollen Freiheitsrechte und sonstigen zivilisatorischen Errungenschaften leistet sich ein solches Kollektiv, sie hängen, so schön diese Errungenschaften auch sind und so wenig ich sie missen möchte, von der Gnade dieses Kollektivs ab. So ist es einfach. Es gibt in dieser Welt keine Ewigkeitsgarantie für diese Freiheiten und Rechte, so schön sie auch sind. Es gibt keine Instanz, bei der man sie auf dem Beschwerdeweg per Formular einklagen kann, sondern nur Völker – die es sich leisten, sie mehr oder weniger gut zu garantieren.

Die dahinterliegende allgemeine Krankheit ist die Fetischisierung der Form, der Struktur, der Wirtschaftsweise, der Verfassung usw. Nicht der europäische Menschenschlag war es gemäß diesem Narrativ, der den wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung des 19. Jahrhunderts hervorbrachte, sondern die neuen Strukturen, unter denen er lebte. Die konkreten Menschen und ihr historisches Gewordensein ist völlig egal - welchen Weltwinkel sie auch immer bewohnen und welche Sitten, Denkweisen, Anschauungen, Verhaltensmuster, Gewohnheiten sie sich erschaffen haben: würden sie nur die liberalen Strukturen übernehmen, so würden sie in den Genuß des selben Wunders kommen wie die Europäer des 19. Jahrhunderts.

Die Verfassung, der nach liberaler Ansicht aller Patriotismus gewidmet sein soll, besteht aus Ideen und ist daher ihrer Natur nach universell. Jeder Eskimo, jeder Chinese, jeder Mensch auf jedem Weltteil kann sich somit dazugehörig fühlen, das Ideal kann gar keine Menschen ausgrenzen, zu dieser merkwürdigen liberalen Form von patria gehört wesensmäßig immer die gesamte Menschheit. Das passt schön zu dem Paradigma Grenzen sind böse – auch dieses Lied singen Liberale sehr gern im Chor mit Linken.

Gegen den Sozialismus zu sein, ist heute ja noch salonfähig. Welchen Protest er aber auf sich zog, als er zum heiligen Liberalismus auf Distanz ging, hat Armin Mohler einmal sehr schön beschrieben (in dem kleinen Pamphlet "Gegen die Liberalen"):

Wer ist ein harmloser Rechter?

Wenn Sie mit einem „Rechten“ zu tun haben, so suchen Sie herauszubekommen, wer sein Feind Nr.1 ist. Sind es die Kommunisten, so haben Sie einen von Grund harmlosen Menschen vor sich. (…) Wenn der Mann jedoch auf die Liberalen gespitzt ist, wird die Sache ernsthafter. Denn dieser Rechte hat einen Feind, der bereits innerhalb der Burg agiert und unsere Abwehr so weich macht, daß der äußere Feind eindringen kann. Feindschaft gegen Liberale gilt vielen Leuten als anstößig.

Um an einer ganz anderen Ecke anzufangen: als mir einmal einige Bosheiten gegen allzu verrückte Ökomanen über die Lippen rutschten, schaute mich eine sympathische Dame in mittleren Jahren entsetzt an. Sie fragte mich mit vorwurfsvollen Augen: „Ja, macht das Ihnen denn keine Freude, wenn die Vögelein pfeifen?“ Darauf fiel mir nun wirklich keine Antwort ein. Ähnlich kann es einem gehen, wenn man etwas gegen die Liberalen sagt. Dann kommen gleich die halb verständnislosen, halb empörten Fragen: „Sind Sie denn gegen die Freiheit?“ (…) Ich komme nicht darum herum zu sagen, weshalb ich gegen die Liberalen bin … . Und mehr noch: weshalb sie für einen Konservativen meiner Art der Feind Nr. 1 sind. Mit einem Linken kann ich mich unter Umständen noch verständigen, denn nur zu oft hat er eine Teilwahrheit für sich. Mit dem Liberalen jedoch kann es keine Verständigung geben.

Ich würde nicht so weit gehen, daß es mit den Liberalen keine Verständigung geben könne. Auch der Liberalismus hat Teilwahrheiten für sich. Aber wegen der hier beschriebenen Wesenszüge, die er mit dem Sozialismus teilt, birgt er nicht nur ernste Probleme, sondern ist selbst Teil des Problems.

Veröffentlicht: Mittwoch, den 3. August 2016