Rüdiger Plantiko

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In seinem Blogpost vom 24.5.2021 beschreibt der Arzt Bruce Charlton einen Wandel seiner Anschauungen über die ideale Gesellschaft. Anfänglich sehnte er sich nach etwas, was er die totale christliche Gesellschaft nennt: eine vollständige Ausrichtung der Gesellschaft in all ihren Einzelheiten auf Gott. Daß also Gott, der Urgrund allen Seins und Schöpfer aller Dinge, nicht aus dem gesellschaftlichen Leben in die Privatheit des stillen Kämmerleins verbannt wird, daß es nicht mehr als irgendwie unfein angesehen wird, den Namen unseres Erlösers Jesus Christus in einem öffentlichen Diskurs auszusprechen, daß nicht Kruzifixe aus Klassenzimmern und Weihnachtskrippen aus Amtsstuben verbannt werden, sondern daß Christus als König zur Mitte und zum Herzen der Gesellschaft wird, auf den hin sie all ihre Aktivitäten ausrichtet. Denn auf irgendetwas ist jede Gesellschaft ausgerichtet: der Anspruch, man könne auf Dauer von einem Nichts her und in einem bloßen Nebeneinander aller eine beständige Ordnung erhalten und betreiben, ist illusionär. Er führt schnell in den Zerfall – man zehrt nur noch von den Resten der Ordnung, die frühere, zielbewußtere Generationen hinterlassen haben.

Charlton führt einige Beispiele von Gesellschaften an, die er als total christlich in diesem Sinne betrachtet: das byzantinische Reich, das immerhin von 324 bis 1453 bestand, bevor es von den Mohammedanern zerstört wurde, und das Heilige Rußland oder Dritte Rom, wie man es in ostchristlicher Optik nennt: das von Iwan IV. gegründete Zarenreich, das bis 1917 bestand. Als drittes Beispiel führt er das christliche Mittelalter an, in dem aber der Versuch, weltliche und geistliche Macht zu trennen, das ursprüngliche Ideal der "totalen christlichen Gesellschaft" bereits trübte. Er scheut sich nicht, sogar das calvinistische Genf und das mormonische Utah unter Brigham Young in dieser Reihe anzuführen.

Die Grundfrage, die ihn umtrieb, war: ist eine Gesellschaft im Geiste dieser Reiche heute noch möglich? Eine Gesellschaft, in der nicht das Nichts herrscht, nicht das Nebeneinander aller möglichen scheinbar gleichberechtigten Weltanschauungen zum absoluten Ideal erklärt wird, sondern in der Jesus Christus als Mitte und Zentrum, als guter Hirte und König anerkannt wird, auf den hin alles ausgerichtet ist? Und seine Antwort lautete lange: Ja, mutatis mutandis!

Dann aber fuhren ihm einige Denker in die Parade und brachten ihn zu einer Änderung seiner Anschauungen. Zuerst brachte der orthodoxe Amerikaner Seraphim Rose (1934-1982) ihm den Gedanken nahe, daß es sinnlos sei, nach dem Ende des Zarenreiches noch einmal nach einer christlich erneuerten Gesellschaft zu streben: es sei nicht nur das Zarenreich als besondere christliche Gesellschaftsform untergangen, sondern zugleich mit diesem sei auch jede Chance darauf verlorengegangen, in dieser Welt noch einmal ein christliches Reich zu errichten. Die Gesellschaft befinde sich seitdem weltweit in einem unabwendbaren Verfall, an dessen Ende nur noch die übernatürliche Wendung im Jüngsten Gericht stehen könne.

Durch Owen Barfield (1898-1997) lernte Charlton die anthroposophische Lehre von den Kulturepochen kennen. Der Grundgedanke ist der Progressismus: daß die Menschheit - wie der Einzelmensch - durch verschiedene Bewußtseinsstufen hindurchschreite und sich dabei immer weiter ins Geistige hinaufentwickle. Solche Bewußtseinsstufen seien objektiv durch die okkulten Schauungen von Dr. Steiner präzise erkannt, beschrieben und festgelegt worden: demnach waren all die erwähnten christlichen Reiche nur im sogenannten Gefühls- und Verstandesselenzeitalter zeitgemäß. In dieser Kulturepoche hätten die Menschen noch einen eher kindlichen, gemüthaften Zugang zu den Dingen gehabt, ihr Erkenntnisvermögen sei noch nicht bewußt genug gewesen, dafür aber noch offener für das Übersinnliche. Die Menschheit sei mittlerweile aber als Ganzes, als Kollektiv, auf einer neuen Stufe, dem sogenannten Bewußtseinsseelenzeitalter, dem fünften Zeitalter nach dem Untergang von Atlantis. Dieses neue Zeitalter habe nach seinen okkulten Forschungen im Jahre 1413 begonnen. Seitdem werde menschheitlich ein neues Seelenglied ausgebildet, die Bewußtseinsseele. Der Versuch, Dinge wiederzubeleben, die vor dem Jahre 1413 prägend waren, sei nichts anderes als Atavismus - ein Rückfall in bereits abgelegte menschheitliche Seinsformen, der nur katastrophale Folgen haben könne.

Es ist erstaunlich, daß ein Mann wie Bruce Charlton, ein vehementer Kritiker der Political Correctness, des heutigen Mainstreams in all seinen linken und liberalen Spielarten, mit keinem Wort bemerkt, daß es sich hier nur um eine spirituelle Variante des politischen Progressismus handelt. Die Vorstellung, daß das Menschheitskollektiv in einer ständigen Weiterentwicklung begriffen sei – zur ewigen Suche verdammt, ohne je zu finden – zerstört alles Absolute, alles Bleibende und Feste, jeden fundamentalen und unverrückbaren Bezugspunkt unseres Daseins. Genau daher ist sie den Menschen unserer gott-fernen Generation so sympathisch. Wer so denkt, kann sich in dieser Welt einkapseln und wie Prometheus die Faust zum Himmel erheben:

Mußt mir meine Erde
doch lassen stehn
und meine Hütte,die Du nicht gebaut,
und meinen Herd,
um dessen Glut
Du mich beneidest.

Damit der einzelne sich aber nicht verloren vorkommt in dieser Menschheitsentwicklung, sondern von der ganzen Reise profitiert (wohin auch immer sie genau gehen mag), wird der spirituelle Progressismus in den meisten seiner Varianten mit der Reinkarnationshypothese verknüpft: demnach kommt irgendetwas Blutleeres, Abstraktes in uns, unser "eigentliches Ich" (und nicht etwa das, was ich unmittelbar in meiner leiblich-seelischen Ganzheit als meine Identität wahrnehme), in jeder Kulturepoche wieder, damit es das für sich mitnehmen kann, was in der menschheitlichen Klassenstunde gerade dran ist. Der Mensch bleibt nach dieser Ansicht mit seinem Ewigen an die Zeit geschmiedet, erlangt nie die endgültige Ruhe und den Frieden – obwohl doch alle menschliche Bewegung immer ein Wohin hat, einen außer dieser Bewegung liegenden Grund, den sie erreichen will.

Was für eine Geringschätzung des So-Seins liegt doch in diesen Gedanken: welche Geringschätzung des konkreten Geschaffenseins als spezifischer, individueller, ganz konkreter Mensch, als leiblich-seelischer Ganzheit, als Angehöriger eines Volkes, einer Ahnenreihe, als auf ganz besondere Weise zubereiteter, unverwechselbarer Entwurf Gottes. Wir sind nach dieser Lehre stets unfertig, immer unterwegs, als Kollektiv die Jahrtausende hindurch auf der Reise, auf ein nebulöses, unbestimmt bleibendes Ziel hin. Der Blick wird auf die Horizontale gelenkt, es geht weiter und immer nur weiter.

Die Vertikale aber ist bereits da - hier und jetzt. Gott ist gegenwärtig und ruft nach Dir in diesem Moment. Er ist für alle sichtbar geworden in Jesus Christus. Indem Maria Ihn in diese Welt brachte, hat sie alle Irrlehren auf der ganzen Welt zunichte gemacht. In der Beziehung zu Ihm können wir beglückt feststellen, daß wir das Absolute schon hier und jetzt gefunden haben!

Von dieser Lage des einzelnen her kann auch das Menschheitliche verstanden werden: auch dort geht es um die Vertikale, den unmittelbaren Bezug zu Gott. Dieser kann zu allen Zeiten und in allen geschichtlichen Epochen gesucht werden. Das Bild ist nicht ein stetiges Fortschreiten, sondern richtiger ein Umkreisen der Mitte. Das Ziel leuchtet nicht in einer fernen Zukunft auf, sondern - aus der Transzendenz her - an jedem Ort und zu jeder Zeit.

Schon die alten Philosophen sahen einen Kreislauf der Gesellschaftsformen, in denen immer wieder verschiedene Arten von Herrschaft aufblühen, in Dekadenz geraten und durch andere abgelöst werden. Das scheint mir korrekt beschrieben: wir können den Himmel auf Erden nicht errichten, denn unser Erkennen des Wahren und unser Wollen des Guten sind unvollkommen - diese Gaben sind durch den Sündenfall getrübt und geschwächt. Unter den Folgen der Erbsünde leiden wir selbst dann noch, wenn sie in ihrer Wurzel durch die Taufe bereits geistlich von uns genommen wurde. Wie wir als einzelne immer wieder hinfallen, uns an Gott wenden und mit Seiner Hilfe wieder aufstehen, so ist es auch im gemeinschaftlichen Leben das Beste, was wir tun können: uns immer wieder an Ihn zu wenden, unsere Angelegenheiten von Ihm ausgehen zu lassen und durch Ihn in die Vollendung zu befehlen, wie es das Gebet actiones nostras so schön ausdrückt:

Actiones nostras, quaesumus, Domine, aspirando praeveni et adiuvando prosequere: ut cuncta nostra operatio a te semper incipiat et per te coepta finiatur. Per Christum Dominum nostrum. Amen

Herr, unser Gott, komm unserem Beten und Arbeiten mit Deiner Gnade zuvor und begleite es, damit alles, was wir beginnen, bei Dir seinen Anfang nehme und durch Dich vollendet werde. Darum bitten wir durch Christus, unseren Herrn. Amen

Damit wäre mein Text fast fertig. Fast, denn auch Seraphim Rose muß noch sein Fett wegbekommen: woher nimmt er denn die Sicherheit, daß mit der russischen Revolution alles anders ist als vorher? So wie man nach Auschwitz durchaus noch Gedichte schreiben kann, hat sich auch die menschheitliche metaphysische Verfaßtheit nicht grundlegend durch den Zusammenbruch des Zarenreiches geändert. Was vorher möglich war, bleibt auch nachher möglich. Unsere menschliche Natur ist dieselbe geblieben, mit all ihren Anlagen - zu Höchstem wie auch zu Schändlichstem, zu Heldentum und zum Verbrechen. So wird es bleiben bis zum Jüngsten Tag. Ja, Anzeichen für das Ende gibt es seit bald zweitausend Jahren - einfach deshalb, weil wir seit der Himmelfahrt Christi tatsächlich in der Endzeit leben. Wir wissen: Tausend Jahre sind vor Dir / wie der Tag, der gestern vergangen ist, und wie eine Nachtwache. (Ps. 90/89v. 4). Andererseits sind wir ermahnt: Seid wachsam, denn ihr wißt nicht, zu welcher Stunde euer Herr kommen wird (Mt 24,42).

Veröffentlicht: Montag, den 24. Mai 2021