Rüdiger Plantiko

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Der inhaltlich bis in die Antike zurückgehende Spruch vox populi vox Dei sagt aus, daß das Volk selbst die beste und in der Politik die logisch einzig mögliche Quelle des guten Handelns und insbesondere des gesunden Rechtsempfindens ist, an dem sich der ganze Überbau zu orientieren hat. Der ganze Überbau lebt ja schließlich nur von Volkes Gnaden, er steht auf der payroll des Volkes. Ich hatte das in einem kleinen Plädoyer für direkte Demokratie näher ausgeführt. In Gesellschaften, in denen diese Rückbindung des Überbaus ans Volk fehlt, lebt die Elite schließlich verblendet in einer verlogenen Scheinwelt. Manche würden hinzufügen, daß sie ihre Verlogenheit systembedingt gar nicht mehr bemerken kann. Schon Jesaja verfluchte solche Menschen: »Wehe denen, die das Böse gut nennen und das Gute böse, die Finsternis zu Licht machen und Licht zu Finsternis; die Bitteres zu Süßem machen und Süßes zu Bitterem!« (Jes 5:20).

Juristen sind auf Recht und Gesetz verpflichtet. Sie sind keine "Paragraphen-Automaten" (Max Weber), sondern das Gesetz bedarf der Auslegung, und diese wiederum bedarf des gesunden Rechtsempfindens. Die Tätigkeit des Auslegens von Gesetzen ist nicht deduktiv, nicht "operationalisierbar", wie die Soziologen sagen würden, sie ist ein Akt, der geistige Freiheit erfordert, die aber - wie jede echte Freiheit - nicht Willkür bedeutet, sondern vom Gefühl für das Recht geleitet sein muß. Erst wenn diese Orientierung am Recht nicht mehr gegeben ist, wird der Richter unfrei - er läßt sich fremdbestimmen vom Zeitgeist, von Lobbygruppen, von seiner Partei, oder auch von seinen persönlichen Trieben und Launen.

Das gesunde Rechtsempfinden ist aber nicht nur in Gerichten essentiell, sondern ist auch konstitutiv für den gesamten Staat. Es muß eine Kohärenz des Rechtsempfindens von Herrschern und Beherrschten geben, sonst wird der Staat instabil und zerfällt schließlich. Im Kontrast dazu verschärft die Haltung "Nicht die Eliten - die Bevölkerungen sind im Moment das Problem" (Gauck) die Spannung zwischen Herrschenden und Beherrschten, indem sie einen Interessengegensatz konstruiert. In der Sicht von Gauck ist es die Hauptaufgabe der Eliten, die Bevölkerungen so zu erziehen, daß sie die Interessen der Eliten voller Überzeugung als ihre eigenen vertreten und jeder Widerspruch in ihren Gedanken, Worten und Werken ausgemerzt ist.

Zu Recht ist der Demokratie in ihrer gegenwärtigen Form vorzuwerfen, daß sie eine Pflanzstätte für minderwertige Führungspersonen ist, wie Edgar Julius Jung (1894-1934) in seinem voluminösen Werk Die Herrschaft der Minderwertigen darlegte: die Elitenauswahl treibt nicht die am besten zum Führen Geeigneten nach oben, sondern begünstigt die Schlechten: die moralisch Minderwertigen. Er argumentiert, daß es den Parteien mit Hilfe der modernen Medien leicht möglich ist, Menschen mit wohlklingenden Programmen zu ködern, an die sie sich später nicht halten; daß in der Demokratie für Politisches geworben wird wie für eine Zigarettenmarke, und auch mit denselben Mitteln, und daß die Parteigenossen sich ähnlich wie die Aktionäre einer Firma fühlen, das Volk nur als Manövriermasse für ihre eigenen Absichten sehen.

Ich war daher froh zu erfahren, daß der Streit, ob Volkes Stimme Gottes Stimme sei, bereits uralt ist. Wenn Alkuin, der Berater Karls des Großen, bereits den Spruch "Vox populi, vox Dei" zitiert, wenn auch nur um ihn zurückzuweisen,

Auf diejenigen muss man nicht hören, die zu sagen pflegen, "Volkes Stimme, Gottes Stimme", da die Lärmsucht des Pöbels immer dem Wahnsinn sehr nahe kommt.

zeigt das zugleich, daß die Idee der Volkslegitimation offenbar auch damals weithin bekannt und befürwortet worden sein muß. Auch ein Monarch dürfte sich in der Regel bewußt gewesen sein, daß er und seine Dynastie die Herrschaft nur von Volkes Gnaden ausübte - und beide, Volk und Herrscher, von Gottes Gnaden lebten und blühten. Das summum bonum war etwas, dessen absolute Realität damals noch allen Menschen unmittelbar klar war und dem alle, das Volk ebenso wie dessen Führer, sich gemeinsam verpflichtet fühlten. Nur unter dieser Voraussetzung gilt dann auch das vox populi vox Dei. Volk und Herrscher schauen in die gleiche Richtung, das Volk legitimiert Herrscher, die in seinem Sinne die Regierungsarbeit leisten.

Wenn man sich die Argumente gegen Demokratie genauer anschaut, sind sie meist auf die Übermacht der Parteien in den gegenwärtigen Formen von Demokratie zurückzuführen. Andere Systeme der Volksherrschaft sind denkbar, in denen - durch voll verwirklichte Gewaltentrennung und Subsidiarität - keine Parteien existieren, oder Parteien in ihrer Macht wenigstens sehr begrenzt sind.

Daß Herrschaft notwendig ist, es also Herrschende und Beherrschte geben muß und die Anarchisten auf dem Holzweg sind, folgt daraus, daß es Güter gibt, die niemand den Interessen einzelner überlassen will - wie z.B. Infrastruktur, Bildung, Soziales, und eben auch die Rechtssicherheit, um vor der Willkür einzelner durch ein übergreifendes Band geschützt zu sein. Wichtiger als die Systemfrage - wie genau der Staat organisiert sein muß, um dem gemeinsamen Wohl am besten zu dienen - erscheint mir, daß das Volk überhaupt sich noch als ein Ganzes fühlt: ich komme immer wieder auf den weisen Ausspruch von Böckenförde zurück: "die (relative) Homogenität der Gesellschaft und die moralische Substanz des einzelnen" – daran hängt alles andere. Es muß also vorrangig darum gehen, diese beiden Säulen unserer Gesellschaft zu bewahren und zu fördern. Der gute Baum wird dann gute Früchte bringen, in einer Demokratie ebenso wie etwa in einer Monarchie.

Gegen diese Sicht einer Konvergenz von Religion und Staat durch die von Gott gewollten Völker scheint das Jesuswort "Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist" für eine Trennung von Staat und Kirche zu sprechen. Keineswegs kann aber damit gemeint sein, eine Gesellschaft müsse Religion ins stille Kämmerlein delegieren. Warum ist denn überhaupt etwas "des Kaisers"? Wodurch ist der kaiserliche Anspruch auf Gehorsam legitimiert? Im christlichen Sinne natürlich nur durch Gott. Daß die Gesellschaft hierarchisch geordnet ist, daß es Herrschaft gibt, ist gottgewollt. Deshalb müssen wir dem Kaiser geben, was des Kaisers ist. Andererseits hat der Kaiser aber nur solange Anspruch auf Gehorsam, wie er selbst sich Gottes Willen unterstellt. Denn der unbedingte und prioritäre Gehorsam von jedermann, vom Kaiser wie vom Untertanen, muß Gott selbst gelten. Das spricht also eher für eine auf Gott hin geordnete denn für eine säkulare Gesellschaft, die Religion und Politik säuberlich-kleinmeisterlich zu trennen versucht (und dann um eines fikiven leeren Raums willen, von allem Religiösen keimfrei gehalten, Kreuze aus Klassenzimmern und aus Lehrerinnen-Dekolletés , und Weihnachtskrippen aus Amtsstuben herausoperieren muß).

Veröffentlicht: Sonntag, den 3. September 2017