Rüdiger Plantiko

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Ein großes Wunder ist der Mensch, begann Pico della Mirandola (1463-1494) seine berühmte Rede über die Würde des Menschen. Recht hat er: das menschliche Leben ist ein Wunder - ein unglaublich fein gesponnenes Gewebe, ein Ineinanderspielen von schicksalsmässig Gegebenem und individuellen Spielräumen oder Handlungsmöglichkeiten.

Picos Rede war und ist sehr beliebt, denn sie schmeichelt dem Menschen, schwärmt ihm von seinen Möglichkeiten vor. Das schicksalsmäßig Gegebene rückt in den Hintergrund zugunsten des Gedankens, daß der Mensch sein eigener Baumeister ist. So etwas hören Menschen gerne:

Ich erschuf dich weder himmlisch noch irdisch, weder sterblich noch unsterblich, damit du als dein eigener, gleichsam freier, unumschränkter Baumeister dich selbst in der von dir gewählten Form aufbaust und gestaltest. Du kannst nach unten in den Tierwesen entarten; du kannst nach oben, deinem eigenen Willen folgend, im Göttlichen neu erstehen.

Und es ist ja auch wahr: die Freiheit und die diese voraussetzende Unbestimmtheit des Menschen ist ein unglaublich kostbares Geschenk. Auch wenn er in einen bestimmten Winkel des Universums hineingeboren wurde und bestimmte Aufgaben ihm ohne sein Zutun gegeben wurden, so ist er in seinem Wesen nicht durch dieses ihm Zugeteilte bestimmt (etwa wie ein Tier, das durch den Instinkt in einen spezifischen Ort der Natur eingebaut ist).

Das moderne, aus den Fugen geratene Denken übertreibt aber den in eigener Freiheit liegenden Teil im Namen der Selbstverwirklichung bis ins Maßlose. Bis an die Schwellen der Geburt und des Todes wütend, soll alles umgestaltet und bestimmt werden durch die Wünsche, Ziele und selbst ganz frei gesetzten Normen des Individuums. Das Motto: alles ist machbar, planbar, änderbar, der Mensch ist sein eigener Gott, der Schöpfer seines Lebens, sein Baumeister eben. Zwar kann das schicksalsmäßig Gegebene auch in dieser extremen Sicht nicht ganz geleugnet werden, es ist aber vor allem ein Ärgernis, es liegt permanent unter Beschuss, wird hinterfragt, abgeschafft, umgestaltet, ausgeschaltet.

Man kann diese Sichtweise auch zu dem einen Credo zusammenfassen:

ICH! ICH! ICH!

Wenn alles der eigenen Selbstbestimmung unterliegt, gibt es keine übergeordneten Zusammenhänge mehr, der Mensch ist von allem losgekettet und damit zugleich für alles verantwortlich. Eine falsche Entscheidung kann dazu führen, daß Du Dein Leben verpfuschst - oder zumindest eine lange Strecke dieses heute leider noch endlichen Lebens. Wir arbeiten daran, den Tod abzuschaffen, diesen fiesen Feind unserer Freiheit, der die Menschen manchmal wirklich unverschuldet ereilt. Krankheiten sind zwar in den meisten Fällen die wohlverdiente Strafe für die Missachtung der Speisevorschriften und Bewegungsrituale des Gesundheitskultes, treffen den Menschen also zu Recht, sind gerechte Konsequenz eigener Verfehlungen. Dennoch gibt es auch Fälle, in denen Menschen nichts dafür können, wenn sie krank werden. Diese Art von Krankheiten muss abgeschafft werden, indem wir ihre Ursachen erforschen und abschaffen. Auch das Altern muss verlangsamt und schliesslich ganz gestoppt werden. Alter ist uncool, es begrenzt Deine Möglichkeiten und Deine Wettbewerbsfähigkeit mit denen, die zufällig einfach jünger sind als Du. Das ist gemein. Das Altern muss auch abgeschafft werden. Wenn Dich diese Dinge heute noch treffen, hast Du halt leider Pech gehabt. Tut uns leid, aber wir arbeiten daran, diesen Mist abzuschaffen.

Was für ein Urteil fällt so ein Zeitgenosse über die Menschen, die vor uns gelebt haben? Deren lachhaft kurzes Leben zu 99% eine reine Plackerei war. Für was haben sie sich so abgemüht? Haben sie nicht den Sinn ihres Lebens verfehlt, indem ihr Leben davon bestimmt war, am Fluss die Wäsche für die zehnköpfige Familie zu waschen oder sich auf dem Felde oder in Werkstätten fremdbestimmt zugrundezuarbeiten. Hätten sie nicht mehr aus sich machen können? Lag in ihnen nicht die Begabung für etwas ganz anderes, Höheres? Was für eine Verschwendung von Potential!

Diese Haltung ist anmaßend. Die Menschen von damals hatten mehr Ahnung von ihrer Würde als wir Heutigen, die wir glauben, diese Würde aus uns selbst heraus definieren zu können - oder zu versagen, wenn wir es nicht tun. Sie sind ganz schlicht der Devise gefolgt - zu tun, was zu tun ist. Sie haben das angenommen, was dem Menschen schicksalsmäßig gegeben ist, und nicht damit gehadert, sondern versucht, das Beste daraus zu machen. Sie waren bemüht, ihr Leben mit Anstand zu führen, mit Rückgrat bei aller Schufterei, aufrecht gehend, aufgerichtet durch ihren Glauben an Gott und durch die innere moralische Richtschnur, der sie folgten.

Seine Würde hat ein Mensch nicht dadurch, was er leistet, sondern er hat sie einfach, egal was er "aus sich gemacht hat".

Veröffentlicht: Donnerstag, den 2. Juni 2016