Rüdiger Plantiko

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Wer je staunend und gerührt vor den Zeugnissen alter Zeiten gestanden hat, vor Bildern und Texten, Kunst- und Bauwerken, die so unendlich viel mehr Tiefgang, mehr Format, mehr Stil, mehr Würde haben als die Produkte unserer eigenen Zeit, wird in den traurigen Ausruf Schillers einstimmen:
Lieben Freunde! Es gab schönre Zeiten
Als die unsern - das ist nicht zu streiten!
Und ein edler Volk hat einst gelebt.
Könnte die Geschichte davon schweigen,
Tausend Steine würden redend zeugen,
Die man aus dem Schoß der Erde gräbt.
Es ist fast schon tröstend zu wissen, daß selbst in einer Zeit, die wir als eine klassische Blütezeit ansehen, solche Empfindungen die Menschen anrührten.

Was uns aber überhaupt nicht trösten kann, ist, wie Schiller dieses Gedicht weiterführt:

Doch es ist dahin, es ist verschwunden,
Dieses hochbegünstigte Geschlecht.
Wir, wir leben! Unser sind die Stunden,
Und der Lebende hat recht.

Der Lebende hat recht? Was für ein billiger Trost! Alles, was einer tut, sei gerechtfertigt - allein aufgrund der Tatsache, daß er lebt? Eine Gesellschaft in ihrer bloßen Existenz zu erhalten, ist ohne jeden Wert. Es muß einen Grund, einen höheren Sinn, ein Ziel geben, warum man diese Anstrengung überhaupt auf sich nimmt. Das nackte Überleben kann es nicht sein - Essen und Trinken, Schlafen, Fortpflanzung sind in sich kein zureichender Grund für die Fortexistenz. Auch in seiner abgeschwächten Form reicht es nicht aus: sogar wennn einer nicht nur die nackte Existenz, sondern auch die zivilisierte Existenz genau in der Form erhalten will, wie sie sich gerade bis jetzt entfaltet hat, was manche als Konservatismus mißverstehen, so gibt er eben "nur die Asche weiter und nicht das Feuer", wie das Sprichwort sagt.

Auf dieses "Recht des Lebenden" hat sich noch jeder Tyrann berufen. Er kann keinen höheren Grund für sein Handeln anführen, weil er keinen solchen hat, sondern "schafft Fakten" – und wenn diese dann einmal in der Welt sind, haben sie eine Eigendynamik und zwingende Kraft. Diese Kraft ist natürlich durchaus real: auf die Dauer etablieren sich die einmal geschaffenen Fakten und werden zur Norm - das ist die berühmte normative Kraft des Faktischen (ein Begriff, den der deutsche Staatsrechtslehrer Georg Jellinek prägte). Nur ist sie eine Trägheits- oder Schwerkraft. Die Bewegung, die sie hervorruft, ist eine abwärtsgerichtete. Während man Rechte in Anspruch nimmt und ausweitet, schleifen sich die unangenehmeren Pflichten in einer allmählichen Dekadenzbewegung immer weiter ab. Man hinterfragt die Pflichten mit großem Scharfsinn, läßt dies oder jenes Gebotene weg, weil es doch auch ohne geht. Mit der schnoddrigen Frage "Na und? Haben Sie ein Problem damit?" werden die in die Defensive gedrängt, die auf der Pflichterfüllung bestehen. Immer Elementareres gerät unter Rechtfertigungsdruck und fällt schließlich weg. Bei jedem einzelnen Schritt ist man dabei der Ansicht, man habe ja nur ein winziges Steinchen aus einem stabilen Bau entfernt, woran doch die Stabilität des Ganzen nicht hängen könne. Bis schließlich doch der ganze Bau in sich zusammenstürzt.

Eine Gesellschaft, die sich nur unter dem Gesetz dieses "Rechts des Lebenden" weiterbewegt, wird also immer träger, immer morscher, immer brüchiger, bis sie schließlich kollabiert.

Ein niederträchtiges Recht, schlechter zu sein als die vor uns lebten,
urteilte Goethe in einem Gespräch mit Riemer.

Und damit hat er recht: eine gesunde, lebendige, blühende Gesellschaft braucht eine Aufrichtekraft, die das bloße "Recht des Lebenden" nicht bieten kann. Diese Aufrichtekraft ist der Bezug zu Gott. Wo dieser fehlt, geht es abwärts.

Veröffentlicht: Montag, den 22. Juli 2019