Was hat er seinem Volk zu sagen?
Er will sie zuallererst teilhaben lassen an der beseligenden Gottesnähe, die er erfahren durfte und die noch sein Wesen durchdringt und durchbebt. Er hat Gott erfahren, den Schöpfer, zu dem hin alles in ihm geordnet ist. Alles Denken, Wollen und Handeln sollte in ihm gründen, auf ihn gerichtet sein - dann wird es gut. Vor seinem Aufstieg hatte er den Abfall des Volkes erleben müssen. Sie "machten sich Götter, die vor ihnen hergehen" (Ex 32:1), waren also berauscht von ihrer menschlichen Eigenmacht. Nun gibt er ihnen zehn Gebote, pflanzt zehn Säulen in die Wildnis ihrer Seelen ein, auf daß ein Tempel darauf gebaut werden könne, auf daß sie nicht in die Irre gehen.
Die ersten drei Gebote strahlen - wie die ersten drei Bitten des Vaterunser - noch ganz im Licht der göttlichen Sphäre:
Ich bin der Herr, Dein Gott.
1. Du sollst keine anderen Götter neben mir haben.
2. Du sollst den Namen Gottes, Deines Herrn nicht verunehren.
3. Du sollst den Sabbat heiligen.
Es beginnt – natürlich – mit Gott. Es gibt nur einen Urgrund allen Seins, nur eine Uridee aller Ideen, nur einen, der als Schöpfer alles ins Sein ruft - diesem einen soll die Anbetung gelten, ohne Ablenkung durch falsche Götter, die sich an dessen Stelle setzen wollen.
Der Name Gottes, den wir nicht verunehren sollen - was ist damit gemeint? Sicher auch die Benennung, das konkrete Wort, welches auch immer es ist, das wir nicht unbedacht im Munde führen sollen wie ein profanes Wort. Aber im allgemeineren Sinne überhaupt die ahnende Vorstellung, die wir uns von Gott machen, wenn wir uns im Glauben mit ihm verbinden wollen. Sie soll niemals zu plump sein (kein Bildnis, das zu sehr an der irdischen Sphäre klebt, auf das unser Denken gewöhnlicherweise gerichtet ist), zu rabiat, zu starr, sie soll nicht Geschaffenes an die Stelle des Schöpfers setzen.
Du sollst den Sabbat heiligen: halte Dir regelmäßig Bereiche und Zeiten in Deinem Leben frei, die nicht mit der Sorge um die irdischen Dinge und dem Genuß der irdischen Dinge besetzt sind - und die Dich sonst besetzen, sondern die Du allein der Anbetung und Verehrung Gottes widmest. Selbst im göttlichen Schöpfungswerk gibt es eine Zeit des Hinaus-Hauchens und eine Zeit des Schweigens. Die Woche mit dem Sonntag als heiligem, aus dem gewöhnlichen Lauf der Zeit herausgehobenem Tag, ist dem nachgebildet. Wie ein Tempel ein heiliger Bezirk im Raume ist, so ist der Sonntag ein heiliger Bezirk in der Zeit.
Nach dieser, noch ins Göttliche getauchten Dreiheit von Geboten beginnt nun der Abstieg in die Sphäre des Menschlichen.
4. Du sollst Vater und Mutter ehren, auf daß es Dir wohl ergehe und Du lange lebest auf Erden.
Wenn es um das Werden und Wesen des Menschen geht, ist das erste, wozu wir ermahnt werden: die Ehrfurcht gegenüber unserer Herkunft, die Ehrfurcht vor Vater und Mutter. Sie sind auch die ersten Menschen, die uns in dieses Leben hineingeleiten, sie treten dem Kind als Mittler der väterlichen Liebe Gottes gegenüber. Die Ehrfurcht gegen Vater und Mutter ist eine Abschattung der Gottesfurcht.
Den Menschen, die uns in dieses körperliche Sein versetzt haben, denen wir es verdanken, schulden wir Ehrfurcht. Das vierte Gebot ist das Gebot der horizontalen Bewegung. Wir sind schicksalhaft in eine Kette der Generationen hineingestellt, durch unsere Vorfahren und besonders unsere Eltern mit Anlagen und Fähigkeiten ausgestattet, mit Liebe hineinerzogen in ein ganz bestimmtes, konkretes Volk. Wir werden selbst die Fackel weiterreichen und unseren Nachkommen diese vorgefundene Welt hinterlassen, vielleicht um neue Vorzüge und neue Aufgaben angereichert.
Zum vierten Gebot gehört es nicht nur, Vater und Mutter zu ehren, sondern auch das Volk zu achten, dem man angehört - auch das ist der Vererbungszusammenhang - sich das Vorgefundene anzueignen, es weiterzuentwickeln, und schließlich auch den eigenen Kindern gute, liebende Eltern zu sein.
"Auf daß es Dir wohl ergehe und Du lange lebest auf Erden" - das ist nicht bloß eine orientalische Ausschmückung des Gebotes. Es ist darin enthalten, daß der Wunsch nach Wohlstand, Glück und langem Leben nicht etwa verwerflich ist (weil man das Glück etwa "nur" im Himmelreich suchen soll) - und daß, um ihn zu erreichen, die Ehrfurcht gegenüber den Vorfahren und dem Volk eine wesentliche Voraussetzung ist - Ehrfurcht vor der ganzen Schicksalsweisheit, die unser Leben überhaupt vorbereitet und ermöglicht hat.
Erst mit dem fünften Gebot ist die Sphäre des einzelnen Menschen, des Individuums erreicht – es folgen nun ausschließlich Verbote, nicht mehr Gebote. Verbote sind Zäune, die das zu Schützende nicht positiv festlegen wollen, sondern ihm nur ermöglichen wollen, in Freiheit zu gedeihen.
5. Du sollst nicht töten.
Im Strom der vorhergehenden Gebote gelesen, ist das individuelle Leben ein Geschenk Gottes und eine schicksalsgegebene Aufgabe. Göttlich gewollt und vom Schicksal in einen ganz bestimmten Kultur- und Vererbungsstrom weisheitsvoll eingefaßt und vorbereitet, ist das Menschenleben etwas ungemein Edles, Kostbares, Schützenswertes – kurz: in seinem Kern ist das Leben heilig. Das gilt für das eigene Leben ebenso wie für das Leben jedes anderen Menschen.
Was für das Leben gilt, gilt auch für den Leib: Ein Verstoß gegen das fünfte Gebot wäre es auch, einen anderen Menschen zu verletzen, ihm zu schaden, ihn krank zu machen.
Ja, gegen die Norm des fünften Gebotes verstößt es sogar, seinen Bruder einen Narren zu nennen (Mt 5:22). Damit ist nicht gesagt, daß es eine ebenso schlimme Verfehlung wie ein Mord ist, sondern nur, daß es von der gleichen Qualität ist: auch die Beschimpfung ist ein aggressiver, zudringlicher, verletzender Eingriff in das Leben eines anderen, das an sich unbedingten Schutz genießt.
6. Du sollst nicht Unkeuschheit treiben.
Was bis jetzt geschah: aus Gott kommt der Mensch, seine Eltern haben ihn in dieses Leben geleitet, er reifte heran und lernte, ein verantwortliches Leben zu führen. Nun ist er erwachsen und selbst frei, das Gute zu erkennen und zu tun. Das Gebot, das ihm an diesem Punkt entgegenschallt, ist: Du sollst nicht Unkeuschheit treiben.
Es ist nämlich nun an ihm, den Strom fortzusetzen - "als priesterlicher Mittler zwischen dem, was war und dem, was kommen wird" (Pfr. Hans Milch). Auch in ihm liegt die Anlage zum Väterlichen, zum Mütterlichen, zur Weitergabe desen, was ihm gegeben wurde, zum Üben der Liebe. Die Anlagen drängen zur Entfaltung und verheißen ein erfülltes, sinnhaftes Leben. Wird er die Anlagen entfalten - oder wird er sich dieser Bestimmung bewußt verweigern? Wird er das trotzige "non serviam" herausschleudern? Wird er die Verantwortung und das, wonach ihn die höhere Bestimmung drängt, ablehnen? Wird er nur den eigenen Wünschen und Gelüsten dienen wollen? Wird er sich eine Philosophie zurechtbasteln, die dieses Den-eigenen-Wünschen-Folgen noch verherrlicht und verklärt?
All das schwingt im Verbot der "Unkeuschheit" mit, ebenso wie im "Ehebruch" (in der wörtlichen Form des Gebotes). Man muß diese Begriffe weit denken, sich öffnen für immer tiefere Inhalte, die alle letztlich im großen Geheimnis münden. So kennt die christliche Mystik auch eine "mystische Ehe", für die die Ehe von Mann und Frau nur ein Zeichen, Gleichnis und Übungsfeld ist, und aus der sie ihre Weihe bekommt. Die mystische Ehe ist nicht zwischen Mann und Frau, sondern die verheißene ewige Verbundenheit zwischen Gott und der Seele. Dies ist der wahrhaft ewige Bund, und alles Untreuwerden an diesem Bund kann auch als Ehebruch angesehen werden, ja als das eigentliche Urbild aller anderen Ehebrüche.
Aber selbstverständlich ist auch der Ehebruch im wörtlichen Sinn, die ganz konkrete Unkeuschheit gemeint. Wie Paulus verdeutlichte (in 1 Kor 6:15-20), ist jede Hurerei ein Nicht-Ernstnehmen der Verheißung "Der Sohn wird Vater und Mutter verlassen und dem Weibe anhangen, und die zwei werden ein Fleisch sein." (Gen 2:24). Es entsteht auf geheimnisvolle Weise ein neues Wesen aus zwei Einzelwesen, es entsteht ein Fleisch aus zwei Leibern in der ehelichen Verbindung. Die Ehe ist auf das Leben hin angelegt, sie ist ein heiliger Bund (von Gott gestiftet), und die Achtung vor dieser sakralen Natur gebietet es, sie zu erhalten ("was Gott verbunden hat, soll der Mensch nicht trennen", Mt 19:6). Man kann sie also gar nicht hoch und heilig genug halten.
Nach dem Schutz des Lebens im fünften Gebot geht es also im sechsten Gebot um den Schutz des Auftrags, der Bestimmung, die in diesem Leben liegt. Dieser Bestimmung gilt es die Treue zu wahren.
7. Du sollst nicht stehlen.
Nach dem Recht auf Leben (fünftes Gebot) und der Verantwortung zur Weitergabe des Lebens (sechstes Gebot) stellt uns das siebte Gebot das Eigentum als Schutzgut vor. Der in die Welt hineingereifte Mensch macht sich die Erde dienstbar und unterwirft sie sich (Gen 1:28) - im Schweiße seines Angesichts bestellt er den Acker (Gen 3:19). Die Früchte der eigenen Arbeit aber stehen ihm zu, niemand darf sie ihm wegnehmen. Der einzelne Mensch soll eine Sphäre haben, die ihm allein zueigen ist. Nur wenn es einen Unterschied zwischen dem Eigenen und allem anderen gibt, kann man überhaupt einen Begriff von Person haben, der eigenen wie von anderen - ohne Personalität aber ist auch keine Liebe möglich: denn die Liebe setzt die einzelne Person heraus aus allen anderen.
8. Du sollst kein falsch Zeugnis abgeben wider deinen Nächsten.
Die Gebote beziehen sich nicht nur auf körperliche Dinge und konkrete Handlungen, sondern beginnen im Denken und Sprechen. Das falsche Zeugnis schadet dem Nächsten ebenso - oder sogar noch mehr - wie der Diebstahl physischen Eigentums, um den es im siebten Gebot ging.
Es geht auch um die Berücksichtung der Privatsphäre. Üble Nachrede, das Ausplaudern von Geheimnissen, das Verbreiten von Gerüchten oder auch nur intimen, peinlichen Details - all das schadet dem anderen Menschen und verletzt seine Privatsphäre, die ein zu schützendes Gut darstellt. Es ist heute viel von einem Recht auf Privatsphäre die Rede - biblisch kann es durch das achte Gebot gestützt werden.
Positiv gewendet, geht es um das Streben nach Wahrheit, um Wahrhaftigkeit. Wir sollen uns bemühen, in unserem Denken möglich wirklichkeitsnah zu sein, der Natur der Dinge möglichst gerecht zu werden, nicht zu vorschnell zu urteilen, keine Türen im Denken zuzuschlagen, wo der Gegenstand tiefer ist als wir es uns eingebildet haben.
Auch im Verhältnis zum Mitmenschen gilt das Verbot, ihn zu richten. Das heißt nicht, uns aller Zurechtweisungen zu enthalten. Wo es moralische Verfehlungen gibt, gilt es selbstverständlich, diese zu tadeln (zuallererst natürlich bei sich selbst). Aber das Richten der ganzen Person ist Gott vorbehalten - nur er kennt die Person bis in die verborgensten Winkel ihrer Seele. Wir sehen immer nur Aspekte, Auszüge - selbst bei Menschen aus der Familie, die wir täglich um uns haben, genügt das, was wir sehen, nicht, um sie zu richten.
9. Du sollst nicht Unkeusches begehren.
10. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Hab und Gut.
Hier wird das sechste und siebte Gebot noch einmal aufgenommen - diesmal in der Sphäre der Gedanken, Worte und Gefühle, die bereits mit dem achten Gebot betreten wurde. Anders als im Rechtswesen, beginnt im Glaubensleben die Übertretung der Norm bereits in der Gesinnung, nicht erst bei der Ausführung. Das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf (Gen 8:21) - Leib, Leben und Eigentum urständen in geistigen Wirklichkeiten, und daher beginnt auch die Übertretung im Geistigen. Die Begierde ist das Einfallstor für die Übertretungen, daher gilt es sich auch im Wollen aus ihr herauszuziehen. Man kann das tun: man kann seine Gedanken und Absichten kontrollieren (wenn man nicht gerade seelisch krank ist und unter Zwangsvorstellungen leidet), und man kann Gelegenheiten meiden.
Die zehn Gebote als Gesamtkomposition umfassen das ganze Sein - gründend in der allererhabensten Sphäre Gottes, über die Sphären von Volk, Familie, einzelnem Leib und Leben, bis hin zum Denken und Wollen des einzelnen. Es liegt Weisheit in ihrer Anordnung, und sie bieten Stoff für vielfältige Betrachtungen. Vor allem aber liegt in ihrer Befolgung eine Aufrichtekraft, die uns zu Gott hin ordnet.