Rüdiger Plantiko

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Der von Psychologen verschämt F-Skala genannte Persönlichkeitstest (wo sie mit F "Faschismus" meinen) mißt neun Denkmuster, denen Theodor W. Adorno in seinen Studien zum autoritären Charakter, vor allem bei Personen, bei denen sie massiv auftreten, und bei Völkern, in denen sie verbreitet sind, eine den Faschismus vorbereitende Kraft zusprach.

Hier eine Skizze dieser neun Denkmuster, die laut Adorno den Faschismus begünstigen:

Nach Art eines "Brigitte"-Typtests, in dem man ein paar Fragen beantwortet und dann nachlesen kann, was für ein Mensch man ist, wird hier die Zustimmung zu bestimmten Fragen mit einer besonderen Affinität zum Faschismus verknüpft. Diese einfache Form der Darstellung hat für eine weite Verbreitung der politischen Aussagen Adornos gesorgt.

In der Nachkriegszeit sah man den Faschismus oft als das absolut Böse an, von dem es sich unter allen Umständen und so weit wie möglich abzugrenzen galt. Je mehr Gedichte aber nach Auschwitz geschrieben wurden, je mehr der Faschismus in einer relativierenden geschichtlichen Rückschau gesehen wird, die ihn als ein historisches Phänomen neben vielen anderen untersucht und in die Zeitläufe einordnet, verliert auch dieser F-Test seine propagandistische Bedeutung.

Mittlerweile ist es möglich, diesen Test gleichsam zu reinigen, seine Merkmale unbefangen zu betrachten, den falschen Spin, das Stereotypische aus Adornos Porträt zu entfernen, und diese Art von Persönlichkeit als positiven, notwendigen, tragenden Typus für jede Gesellschaft zu erkennen, ganz egal wie diese verfaßt ist.

Die Bekämpfung dieser Ansichten und Impulse – im Namen einer maximalen Abstoßung vom Faschismus – hat folglich die Wirkung, eine Gesellschaft zu entkernen, letztlich alle Stabilität und Ordnung aus ihr zu entfernen. Aus Sicht der Frankfurter Schule ist dies durchaus eine erwünschte, vielleicht sogar angestrebte Wirkung, denn diese Soziologen hingen der ordo ab Chao-Theorie an, wonach eine Zerstörung der bestehenden "falschen" Gesellschaft auch das falsche Leben zerstöre und aus ihren Trümmern dann die gute, die richtige, die moderne, durch und durch menschenwürdige Gesellschaft entstehe.

Gehen wir den Denkmustern einmal einzeln nach, entfernen ihre bewußte Deformation und rekonstruieren sie als gute, der Gesellschaft als ganzer dienliches Programm (alle Zitate aus obigem Link zur F-Skala):

  1. Unter Konventionalismus versteht Adorno die "starre Bindung an die konventionellen Werte des Mittelstands".

    Den Spin geben hier vor allem die beiden Attribute "starr" und "des Mittelstands". Läßt man sie weg, erscheint die beschriebene Haltung nicht mehr als etwas Negatives.

    Wieso "des Mittelstands"? Es ist ein marxistischer Reflex, alle erdenklichen Meinungen, Urteile, Erkenntnisse ökonomisch einzuordnen. Der Mittelstand ist die Gruppe, die der Marxismus besonders für sich gewinnen will: denn die Arbeiter sind - aus Sicht des Marxismus - aufgrund ihrer ökonomischen Situation sowieso auf seiner Seite, und das Großkapital ist sein natürlicher Gegner. Nur der Mittelstand ist schwankend, mißtrauisch gegenüber Umwälzungen, fragt: "Was habe ich davon?", sieht sich aber andererseits vom Großkapital in seiner Existenz bedroht, weshalb er durchaus eine gewisse Sympathie für die Sache der Kommunisten verspürt – zumindest die Bereitschaft, ihnen einmal zuzuhören und abzuwägen, ob bei ihren Plänen etwas für ihn herausspringt.

    In Wahrheit hat zwar jeder Stand konventionelle = althergebrachte Werte, aber viele dieser Werte teilen die Menschen über alle Stände hinweg – die winzige Schicht der heimatlosen Superreichen einmal ausgenommen. Es gibt ein natürliches Bedürfnis nach Gemeinschaft in den Menschen. Sie fühlen sich als Gemeinschaft, mit der sie ein Schicksal teilen. Dieses säuberlich-kleinmeisterliche Auseinanderdividieren der Gesellschaft nach "Klassenstandpunkten" operiert mit Motiven, die es natürlich auch gibt, die aber diesem Allgemeinen untergeordnet sind.

    Die Vorlage dessen, was Adorno als "starre Bindung an die konventionellen Werte des Mittelstandes" verzerrt darstellt, ist also in Wahrheit die Treue jedes einzelnen zu dem, was ihn mit seiner Gemeinschaft verbindet. Althergebrachte Regeln und Abläufe, das in Jahrhunderten eingespielt Funktionierende, wird als tragendes Element der Gesellschaft erkannt, und der einzelne sieht sich in der Verantwortung, die eingespielten Vorgänge im Großen und Ganzen zu reproduzieren.

    Die "Starrheit" ist bereits die Deformation dieser Treue. Man sollte ein Ding aber nicht aus seiner Deformation, sondern aus seinem Wesen heraus darstellen. Es gibt nicht nur ein starres, sondern auch ein gutes Festhalten an Überliefertem, das nämlich Veränderungen in Maßen dort zugesteht, wo die bisherigen Abläufe im einzelnen eben noch verbesserungsbedürftig sind.

    Als Beispiel für den Konventionalismus bringt Adorno den Satz "Gehorsam und Respekt gegenüber der Autorität sind die wichtigsten Tugenden, die Kinder lernen sollen." Auch dieser Satz ist durch die Qualifikation "die wichtigsten" bewußt verzerrt. Gegen den Satz "Gehorsam und Respekt gegenüber der Autorität sind Tugenden, die Kinder lernen sollen" hatte zu Adornos Zeit niemand etwas einzuwenden, er war vielmehr noch Konsens, und selbst heute gibt es noch ein paar Unverdorbene, die ihn gut und richtig finden. Zum Wesen der hier angesprochenen Autorität komme ich noch.

  2. Autoritäre Unterwürfigkeit, definiert als unkritische Unterwerfung unter idealisierte Autoritäten der Eigengruppe.

    Hier gilt es zuerst wieder, einige Verzerrungen zu entfernen:

    Unterwürfigkeit ist das übertreibende Pejorativ für Gehorsam. Die Unterwürfigkeit ist ein ins Lächerliche gezogene, übertriebener Gehorsam auf Kosten der gesunden Antriebe der eigenen Persönlichkeit (ähnlich z. B. dem Altruismus als Perversion gesunder Nächstenliebe). Der Gehorsam des Kindes gegen seine Eltern, des Soldaten und des Arbeiters gegenüber seinem Vorgesetzten usw. sind gut, notwendig und sogar für das Überleben wichtig - sowohl des einzelnen (sehr offensichtlich beim Kind) als auch der Gruppe.

    Mit den Autoritäten, denen man sich unterwirft, stimmt bei Adorno auch etwas nicht: sie werden nämlich von den "Unterwürfigen" idealisiert. Wer also möglichst unfaschistisch sein möchte, sollte sich hüten, irgend etwas Positives über seine Autoritäten zu sagen. Er sollte ihnen kein Vertrauen schenken, sondern an ihnen herummäkeln, sie bestenfalls vielleicht "kritisch würdigen", er darf sie jederzeit auch gern in den Dreck ziehen. Aber sie zu loben für einen großen Gedanken, einen weisen Entschluß, eine verantwortungsvolle Mission, eine besondere Tugendhaftigkeit usw., ist schon stark F-verdächtig.

    Man erkennt schon an dieser Beschreibung, wie naturwidrig das ist: der Mensch ist nun einmal eingespannt zwischen Oben und Unten, er denkt Höheres und Niederes und strebt nach dem Höheren, er hat Maßstäbe, sucht Orientierung, sucht Auf-Richtung. Als Christen wissen wir auch, daß alle irdische Autorität letztlich gottgewollt ist: Christus antwortet Pilatus: "Du hättest keine Macht über mich, wenn sie dir nicht von oben gegeben wäre." Irdische Autorität ist demnach gottgewollt (selbst die eines heidnischen Volkes, wie im Falle des Pilatus) und auf Gott hingeordnet, der die absolute Autorität über seine gesamte Schöpfung ausübt.

    Ferner erkennt man den F-Typ nach Adorno daran, daß er Autoritäten und Vorbilder aus seiner Eigengruppe wählt. Der moderne Mensch setzt sich maximal vom Faschismus ab, indem er sich nur Personen aus anderen Gruppen zum Vorbild wählt. Ein Sinnspruch vom Dalai Lama oder Gandhi ist unanfechtbar. Nach eigener Ansicht handelt er darin nicht diskriminierend gegen die Eigengruppe, sondern sieht in der Bevorzugung des Fremden nur einen Akt ausgleichender Ungerechtigkeit - letztlich ist auch dies ein Teil seines antifaschistischen Kampfes. Im Grunde meint er, die eigene Gruppe nicht höher, aber auch nicht niedriger einzuschätzen als irgendeine andere Gruppe auf der Welt. Er ist Kosmopolit, er sieht keine Gruppen, sondern nur Menschen und liebt sie doch alle. Liebt er aber auch jede Mutter wie seine Mutter, jede Frau wie seine Frau? Es gibt Nähe und Ferne in der Liebe (theologisch gesprochen ist es eine Folge des Sündenfalls, daß wir nicht in der Lage sind, jeden Menschen zu lieben - daher sind uns die in unsere Nähe gegeben, an denen wir unsere Liebe üben sollen, um dem ähnlich zu werden, der jeden einzelnen Menschen ganz unmittelbar und wesenhaft liebt).

    Und schließlich, aber wichtig, ist die "Unterwerfung" auch noch "unkritisch". Nur einer Autorität beugt sich der freie Geist, die er mit seinem kritischen Verstand geprüft und für gut befunden hat.

    Adorno nennt als typischen Beispielsatz für das Merkmal autoritäre Unterwürfigkeit: "Was dieses Land vor allem braucht, mehr als Gesetze und politische Programme, sind ein paar mutige, unermüdliche, selbstlose Führer, denen das Volk vertrauen kann."

    Es folgt automatisch, nach Reinigung von den allgegenwärtigen Verdrehungen, daß dies ein guter Gedanke ist: tatsächlich kommt es im Vergleich weniger auf die Gesetze, die Staatsform und die Verfassung eines Landes als auf die Personen an, die in einer Gesellschaft de facto die Macht ausüben. Mit der Verantwortung für die Allgemeinheit wächst auch der moralische Anspruch. Wer Herrschaft ausübt, sollte sich vor allem wie Friedrich der Große als "erster Diener seines Volkes" fühlen.

    Adornos Beispielsatz ist so zugespitzt, daß einem die Massen förmlich entgegenspringen, die den Arm zum Römischen Gruß erheben, um ihrem Führer zu huldigen. Es gibt aber neben dieser pervertierten Form von Herrschaft auch eine gesunde, gute und richtige Herrschaft. Hier spielt das Vertrauen in die konkreten Führungspersonen eine wichtige Rolle (und Führungspersonen gibt es in jeder Staatsform, natürlich auch in der Demokratie).

  3. Autoritäre Aggression, von Adorno beschrieben als "Tendenz, nach Menschen Ausschau zu halten, die konventionelle Werte missachten, um sie zu verurteilen, ablehnen und bestrafen zu können." Ein typischer Beispielsatz für autoritäre Aggression sei: "Sittlichkeitsverbrechen, wie Vergewaltigung und Notzucht an Kindern verdienen mehr als bloße Gefängnisstrafe; solche Verbrecher sollten öffentlich ausgepeitscht und noch härter bestraft werden."

    Mittlerweile sind wir schon geschult im Erkennen der Zuspitzungen: es gibt nicht nur ein "gezieltes Ausschauhalten" nach Menschen, die nicht "konventionelle Werte", sondern die Regeln des gemeinsamen Zusammenlebens mißachten, sondern es gibt auch das Wachen über den Bestand und die Einhaltung der gesellschaftlichen Ordnung. Sie kann ja auf Dauer nur bestehen, wenn Regelverletzungen, die nun einmal immer wieder vorkommen, auch geahndet werden.

    Nun sind Menschen keine Computer, die Regeln rein mechanisch beachten. Um gesellschaftliche Regeln dauerhaft zu erhalten, müssen sie auch emotional verankert sein. Dazu gehört nicht nur die Liebe zum Guten, sondern auch die Abscheu vor dem Bösen. Die Forderung nach Körperstrafen – bis hin zur äußersten, der Todesstrafe – ist in der Regel nicht Ausdruck einer sadistischen Perversion, sondern der Abscheu vor der bösen Tat und das Entsetzen über den vom Täter angerichteten Schaden.

    Manche sagen, alleiniger Zweck der Strafe sei es, zukünftige ähnliche Taten zu verhindern (z.B. Wiederholungstaten des selben Täters, die er nicht ausüben kann, weil ihm in der Haft ja die Bewegungsfreiheit genommen ist). Das ist aber zu wenig. Strafe muß mindestens den Gedanken der Wiederherstellung oder "Vergeltung" enthalten. Der Täter hat das verletzt, was Konsens unter allen Mitgliedern ist, er hat durch seine Tat das allgemeine Wertesystem, auf das alle bauen, zu einem gewissen Teil sabotiert. Dieses muss wiederhergestellt werden. Ein Dieb z.B. muss mindestens die gestohlene Beute zurückgeben - das allein, also die blosse Wiedergutmachung, wäre aber noch keine gerechte Strafe, es muss z.B. noch eine Geldstrafe hinzukommen. Abgesehen davon ist die Wiedergutmachung oft gar nicht möglich, wie z.B. bei Mord. Vergeltung ist mehr als nur die blosse Wiedergutmachung. Sie ist die reactio auf die actio, den bewussten Angriff auf den Kodex, auf dessen Einhaltung alle Gesellschaftsmitglieder vertrauen. Natürlich muss Vergeltung verhältnismässig sein. Aber sinnvoll ist sie.

  4. Anti-Intrazeption, laut Adorno die "Abwehr des Subjektiven, des Phantasievollen, Sensiblen." Ein typischer anti-intrazeptiver Beispielsatz sei: "Der Geschäftsmann und der Fabrikant sind viel wichtiger für die Gesellschaft als der Künstler und der Professor."

    Um zu verstehen, warum dieses Merkmal es auf die F-Skala schaffte, muß man die "Abwehr des Subjektiven" ins Positive wenden: Adorno schwächt damit die natürliche Anerkennung des Objektiven, die Anerkennung von Wirklichkeit überhaupt. Denn die Wirklichkeit hat ja einen gewaltsamen Faktor: sie zwingt den Menschen, sie anzuerkennen, sonst straft sie ihn – im schlimmsten Fall mit dem Tode. Diese "objektive Wirklichkeit" hindert mich mit brutaler Gewalt daran, gewisse Möglichkeiten auszuleben, die ich subjektiv für schön halte, sie hindert mich daran, meine individuellen Empfindungen frei auszuleben. Das macht sie dem Faschismus verwandt. Hohe Werte auf der F-Skala bekommt, wer auf den "ehernen, ewigen Gesetzen" der Natur beharrt, die man zu seinem eigenen Besten anzuerkennen habe.

    Man muß nicht selbst "Geschäftsmann oder Fabrikant" sein, um anzuerkennen, daß Geschäftsleute und Fabrikanten einen hohen Sinn für die Wirklichkeit haben. Gute Künstler können das in der Wirklichkeit Schlummernde, das Zielhafte, das Noch-nicht-Wirkliche herausarbeiten. An guter Kunst wird sicher niemand etwas auszusetzen haben, sei er nun Faschist oder nicht. Der Künstler ist hier aufgeführt, weil er im Gegensatz zum nüchternen Geschäftsmann das Subjektive repräsentieren soll.

    Warum aber dann der Professor in dieser Reihung? Ist nicht auch der Akademiker der objektiven Wirklichkeit verpflichtet? In der österreichischen Promotionsordnung muß der Doktorand feierlich geloben, nach Wahrheit zu streben und wissenschaftliche Erkenntnisse nicht zu unterdrücken oder zu verfälschen. Dieser mit Sicherheit aus alten Zeiten stammende Brauch betont also, daß die Akademiker von der Gesellschaft das Mandat bekommen haben, gründlich nach der Wahrheit zu forschen, also die Übereinstimmung von Verstand und Sache (Wahrheitsdefinition von Thomas von Aquin) anzustreben. Die Nüchternheit und "Erdung", die Unterdrückung des rein Subjektiven zugunsten einer möglichst klaren Erkenntnis der Wirklichkeit, gehört demnach zu ihrem Tätigkeitsprofil.

    In dem Maße, in dem Akademiker ihrer Aufgabe, das Wahre zu erkennen, untreu werden und stattdessen ihr Amt und ihren Einfluß nutzen, um eine Agenda der Umgestaltung der Gesellschaft zu fördern, wächst die Unzufriedenheit in der Bevölkerung über diesen Amtsmißbrauch. Umgekehrt sehen Ideologen wie die der Frankfurter Schule, die seit den 1920er Jahren den Wissenschaftsbetrieb unterwandert haben, natürlich ihre Aufgabe darin, von ihrer eigentlichen Aufgabe, der Wahrheitsfindung, abzulenken und jeden, der sie daran erinnert, einer protofaschistischen "Intellektuellenfeindlichkeit" zu bezichtigen.

  5. Aberglaube und Stereotypie. Mit Aberglaube meint Adorno natürlich jede Form von Glauben, mit Ausnahme des atheistischen Aberglaubens. Zu den wesentlichen Merkmalen dessen, was Adorno Aberglaube nennt, gehöre der "Glaube an die mystische Bestimmung des eigenen Schicksals". Das kann man wiederum aus der Negation verstehen: wer nämlich das eigene Schicksal oder Wesen nicht für "mystisch bestimmt" hält, hält es für ein Zufallsprodukt: der unendliche, sinnlose Reigen der Atome erzeugt alles: Verstand, Seele, Selbstbewußtsein, Geist, Instinkte, Gefühle, die Einbildungen von freiem Willen und Sinn.

    Stereotypie erklärt Adorno als "Disposition, in rigiden Kategorien zu denken." Um sich hiervon maximal abzugrenzen, müßte man das Denken in Kategorien grundsätzlich ablehnen. Die ideal antifaschistische Haltung würde überhaupt keine Kategorien im Denken anerkennen. Die Gedanken wogen hin und her wie Seifenblasen, bilden vielleicht auch Begriffe, weil sie nun einmal immer irgendetwas bilden, aber diese Begriffe sind allesamt illusionär.

    Ein für das Denkmuster Aberglaube und Stereotypie typischer Ausspruch sei "Kriege und soziale Unruhen werden wahrscheinlich eines Tages durch ein Erdbeben oder eine Flutkatastrophe beendet werden, welche die Welt vernichtet." Hier ist viel Gutes enthalten - darunter die Anerkennung,

    • daß wir in einer Gemeinschaft leben, in der sich die Willen der einzelnen kreuzen können und daher immer auch mit zwischenmenschlicher Aggression gerechnet werden muß (Kriege),
    • daß es keine ideale Verteilungsgerechtigkeit zur Zufriedenheit aller gibt, daher im Bemühen um größere Gerechtigkeit immer soziale Unruhen möglich sind,
    • daß unsere menschlichen Bemühungen ihre Grenzen haben, daß sie immer in ein viel Größeres eingebettet sind und durch schicksalhafte Ereignisse stets durchkreuzt werden können. Das macht den Stolzen einen Strich durch die Rechnung, die alles aus den eigenen Kräften begründen wollen.

  6. Machtdenken und "Kraftmeierei“, von Adorno expliziert als "Denken in Dimensionen wie Herrschaft – Unterwerfung, stark – schwach, Führer – Gefolgschaft; Identifizierung mit Machtgestalten; Überbetonung der konventionalisierten Attribute des Ich; übertriebene Zurschaustellung von Stärke und Robustheit."

    Daß es diese Dimensionen von "Herrschaft - Unterwerfung" usw. in jeder überlebensfähigen Gesellschaft gibt und geben muß, ist bei einer realistischen Wahrnehmung der menschlichen Natur selbstverständlich. Es gilt das, was bereits oben über die Notwendigkeit von Autorität gesagt wurde. "Kraftmeierei" ist wiederum nur die Extremform von einem gesunden Gespür für menschliche Größe. Wenn es nun einmal so sein muß, daß es politische Führung gibt, so kann das allgemeine Interesse nur darin liegen, möglichst qualifiziertes Führungspersonal zu bekommen. Das heißt, man muß darüber nachdenken, was menschliche Größe eigentlich ausmacht, man beschreibt - wie ein Unternehmen in einer Stellenausschreibung - die ideale Besetzung einer solchen politischen Führungsposition, benennt die charakterlichen Eigenschaften und Stärken, die einen Menschen besonders für ein Führungsamt geeignet machen. Daß man dies alles auch übertreiben kann, ist selbstverständlich.

    Als typischen, dieses Denkmuster charakterisierenden Satz, nennt Adorno:

    "Weder Schwäche noch Schwierigkeiten können uns zurückhalten, wenn wir genug Willenskraft haben."

    Dieser Satz beschreibt das Potential des menschlichen Willens sehr zutreffend, ist also kein Faschismusmerkmal, sondern eine Tatsachenbeschreibung. Die Verwendung der ersten Person Plural zeigt, was Adorno hier besonders gefährlich findet: es geht ihn um die Mobilisierung des gemeinsamen Willens vieler, nicht so sehr um den Willen und das Potential des einzelnen. Und auch hier: je weiter man sich von diesem Satz abwendet, je weniger gemeinsamen Willen man seiner Gemeinschaft zugesteht, umso mehr wächst das Risiko des Zerfalls. Wo eine Gemeinschaft keinen eigenen Willen hat, finden sich andere, die sie umso besser nach ihrem Willen lenken können.

  7. Destruktivität und Zynismus Wenn Adorno dies näher als "allgemeine Feindseligkeit, Diffamierung des Menschlichen" beschreibt, wird klar, daß er eigentlich den gesunden, realistischen Blick auf die menschliche Natur im Visier hat. Daß der "Mensch des Menschen Wolf ist", wie es heißt, beschreibt ihn zwar nicht vollständig, muß aber trotzdem realistischerweise zugestanden werden. Gesteht man dies nicht mehr zu, verliert man den Blick für das Machbare und verfällt nur zu leicht dem Denken von einer Utopie her. Von einer Utopie her beurteilt, ist es natürlich leicht, die real existierende Gesellschaftsordnung zu kritisieren. Wer den Menschen allzu naiv und optimistisch einschätzt, ist anfällig für eine hypermoralische Kritik, die letztlich destruktiv wirkt, das Bestehende zerstört, ohne etwas Besseres an dessen Stelle zu setzen.

    Auch der Beispielsatz "Es wird immer Kriege und Konflikte geben, die Menschen sind nun einmal so“ ist zunächst einmal nur ein induktiver Schluß aus einigen Jahrtausenden Menschheitsgeschichte. Mit der zwischenmenschlichen Aggression zu rechnen, ist schlicht ein Gebot der Klugheit.

  8. Projektivität, beschrieben als "Disposition, an wüste und gefährliche Vorgänge in der Welt zu glauben; Projektion unbewusster Triebimpulse auf die Außenwelt." Hierin steckt im Umkehrschluß die psychologisierende Annahme, die Furcht vor dem Abgleiten ins Chaos sei nicht realistisch begründet, sondern nur eine Furcht vor dem eigenen Unbewußten, der man sich persönlich, vielleicht therapeutisch zu stellen habe. Dem ist wieder die Erfahrungsweisheit entgegenzuhalten, daß Zivilisation nur ein dünner Firnis ist, ein immer neu gewagtes Hochrisikoprojekt: "Die zivilisiertesten Völker sind nicht weiter von der Barbarei entfernt als das glänzendste Eisen vom Rost. Die Völker und die Metalle sind nur an der Oberfläche poliert." (Antoine de Rivarol)

    Nicht nur der äußere, auch der innere Feind ist gefährlich. Gerade weil der Wille einer Gruppe eine starke Kraft ist, gilt es immer auf der Hut zu sein, daß sich nicht mafiose Gruppen in den politischen Apparat einnisten, die ein ganz eigenes Interesse und nicht mehr das gemeinsame Gut verfolgen. Aber auch dieser natürliche Selbstschutz ist in den Augen Adornos F-verdächtig. Sein Beispielsatz für dieses Denkmuster ist: "Die meisten Menschen erkennen nicht, in welchem Ausmaß unser Leben durch Verschwörungen bestimmt wird, die im Geheimen ausgeheckt werden.“ Daß es solche Verschwörungen sehr leicht geben kann und daß sie eine echte Bedrohung der Gemeinschaft darstellen, rückt dabei in den Hintergrund. Das Stereotyp der Verschwörungstheorie soll eine solche Wachsamkeit in ein lächerliches Licht rücken.

  9. Sexualität – als "übertriebene Beschäftigung mit sexuellen 'Vorgängen'." Wie das gemeint war, zeigt uns ein Blick auf Adornos Interpreten, die '68er, die von einer sexuellen Befreiung schwärmten. Die Sexualität, die zuvor noch geborgen und gehegt in der ehelichen Liebesbeziehung war und deren natürlichen Zweck man noch sah: die Erzeugung von Nachkommenschaft, wurde aus dieser Intimität herausgelöst und ausschließlich dem persönlichen Lustgewinn untergeordnet. Aber dies war keine "übertriebene Beschäftigung mit Sexualität", wie es Adorno meinte. Die heutige Omnipräsenz von Pornographie und Prostitution, die Sexualisierung der ganzen Gesellschaft vom zartesten Kindheitsalter an, all dies hatte Adorno keineswegs im Visier.

    Seine Kritik galt denjenigen, die sich gegen solche Bestrebungen verwahrten, die den Zweck der Sexualität im Auge behielten und sie in stabilen Ehebeziehungen behütet wissen wollten. Dazu gehört - wie bei der oben beschriebenen Frage der Bestrafung - die Einhegung, eine gewisse Tabuisierung und Zurückweisung von sexuellem Libertinismus. Für Adorno ist auch dies präfaschistisch, wie er mit diesem Beispielsatz zum neunten "F"-Denkmuster erläutert: "Die sexuellen Ausschweifungen der alten Griechen und Römer waren ein Kinderspiel im Vergleich zu gewissen Vorgängen bei uns, sogar in Kreisen, von denen man es am wenigsten erwarten würde."

Zusammenfassend kann man sagen: die neun von Adorno beschriebenen Persönlichkeitsmerkmale dienen in ihrem Wesen (nicht im verzerrten Extrem) der Erhaltung einer blühenden Gemeinschaft. Die wesentlichen Werte in den neun Punkten der F-Skala sind:

  1. Bewährtes respektieren, Traditionen bewahren
  2. Anerkennung von Autorität und gesellschaftlicher Herrschaft
  3. Gutes befördern, Böses strafen
  4. Anerkennung objektiver Wirklichkeit
  5. Anerkennung von schicksalhaft Vorgegebenem, von Typischem (von Wesenhaftem, von Kategorien, Universalien), Glaube an Gott
  6. Den gemeinsamen Willen pflegen, die Mächtigkeit gemeinsamer Anstrengung erkennen und hochschätzen
  7. Vor der menschlichen Schlechtigkeit nicht die Augen verschließen
  8. Die gemeinsame Ordnung vor äußeren und inneren Feinden bewahren
  9. Das Leben weitergeben, für Nachkommen sorgen, die Einrichtung von Ehe und Familie pflegen und fördern

Veröffentlicht: Samstag, den 11. Januar 2020